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Veröffentlicht von Stephan Heibel am 26.07.2022 um 09:49 Uhr

So tickt die Börse: TPI = Kaputter Markt

Liebe Börsenfreunde,

die Zinsentscheidung der EZB war in meinen Augen so etwas wie ein Offenbarungseid. Die überfällige Zinsanhebung um 0,5% wurde nur dadurch ermöglicht, indem man ein neues Instruments erfand, das TPI. damit kann Italien aufgefangen werden, sollte der Markt die dortigen Zinsen in die Höhe treiben. Wie das funktionieren soll:

Die Kreativität einer Berufspolitikerin kennt keine Grenzen, wenn es darum geht, juristische Winkelzüge zur Sicherung der eigenen, vergänglichen Macht zu nutzen. Als ausgebildete Juristin weiß EZB-Chefin Christine Lagarde, was rechtlich möglich ist.

euro Der Euro wurde eingeführt, obwohl man sich der unterschiedlichen Geldkulturen bewusst war. Ein einheitliches Regelwerk werde die Verhaltensweisen schon zusammenführen, so die Hoffnung. Zwanzig Jahre nach seiner Einführung kann diese Hoffnung als gescheitert bezeichnet werden.

Letzte Woche hat die EZB den europäischen Leitzins um 0,5% angehoben. Noch vor wenigen Wochen hatte Lagarde einen Zinsschritt von 0,25% avisiert. Als Begründung, warum nun überraschend ein großer Schritt gewählt wurde, nennt Sie TPI. Ohne TPI hätte man das nicht machen können.

TPI steht "Transmission Protection Instrument", ein neues Instrument im Instrumentenkasten der europäischen Notenbank, mit dem die Durchleitung von Zinsentscheidungen geschützt werden soll.

Wenn also die EZB das Zinsniveau um ein halbes Prozent anhebt und entsprechend in den meisten europäischen Ländern Staatsanleihen um etwa ein halbes Prozent höher verzinst werden, dann hat die EZB ihr Ziel erreicht. Sollte jedoch ein Land dabei sein, bei dem ungewollte Zinssprünge passieren, dann kann die EZB einschreiten. Sie kann dann unlimitiert in den nationalen Geldmarkt eingreifen, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen.

bundesanleihen Sie alle kennen inzwischen die Obergrenze für Staatsschulden von 60% des BIP. Wenn ein Land diese Marke deutlich überspringt, ist das Zinsniveau in diesem Land natürlich höher. Je mehr Schulden ein Land vor sich her schiebt, desto größer das Risiko eines Zahlungsausfalls. Dafür gibt es die Zinsunterschiede innerhalb der EU.

Irgendwo gibt es einen Kipppunkt, einen Point of no Return. Wenn die Schulden zu hoch sind, kann man sie niemals zurückzahlen. Bei Griechenland sehen wir, wie sowas aussieht: der Schuldenstand ist auch heute noch, 10 Jahre nach der Griechenlandkrise, bei 177%, Tendenz steigend!

Italien liegt aktuell bei 133%, also bei mehr als dem doppelten dessen, was erlaubt ist. Wenn nun die Nullzinspolitik endet, wird Italien auf seine Schulden Zinsen zahlen müssen - wir reden ja gar nicht von Tilgung. Die Zinsen können schnell dazu führen, dass Italien zahlungsunfähig wird. Wenn die EZB ernsthaft die Inflation von aktuell 8,6% bekämpfen möchte, muss sie das Zinsniveau so hoch schrauben, dass sich die Finanzierung der meisten Investitionen nicht mehr rentiert, wir eine Rezession bekommen und die Preise sich dann stabilisieren. Doch gleichzeitig würde die Zahlungsfähigkeit Italiens riskiert.

Es ist also absehbar, dass die Zinsen auf italienische Staatsanleihen in den kommenden Wochen und Monaten anspringen, denn das Risiko steigt. Doch ein höherer Anstieg als die von der EZB beabsichtigten 0,5% plus/minus ein paar Zerquetschte wird nun als fehlerhafte Transmission definiert. Der funktionierende Markt wird als fehlerhaft definiert. Dank des neuen Instruments TPI konnte die EZB also einen größeren Zinsschritt, der überfällig war, umsetzen und wird die Marktreaktion darauf auffangen.

Ich bleibe bei meiner Erkenntnis: Der Spruch "Politische Börsen haben kurze Beine" stimmt nicht mehr. Wer an der Börse nach dem Marktgleichgewicht sucht, hat die Politik vergessen, die mit brachialer Gewalt einen Zustand herstellt, den sie als vom Volk gewünscht definiert.

Wer auf das bevorstehende Ende des Euros, der EU und/oder unseres Finanzsystems spekuliert, hat nicht mit der Kreativität der verantwortlichen Politiker gerechnet. Egal welcher Politiker gerade verantwortlich ist, er wird sich als Vollstrecker des Volkswillens betrachten und nicht selten seine eigenen Präferenzen als Wille des Volkes wahrnehmen. Und da Veränderung bekanntermaßen schmerzt, wird das laufende System am Laufen gehalten, solange man wiedergewählt wird. Das Einzige, was daran etwas ändern kann, ist ein Volk, das sich dagegen auflehnt: eine Revolution. Nun schauen Sie sich mal um: Von einer Revolution sind wir weit entfernt.

Also sollten wir uns darauf einstellen, dass unser System, so marode es auch sein mag, noch eine Weile weiterlaufen wird. Unsere Anlagestrategie haben wir schon lange an diese Erkenntnis angepasst.

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Stephan Heibel

Seit 1998 verfolge ich mit Begeisterung die US- und europäischen Aktienmärkte. Ich schreibe nun wöchentlich für mehr als 25.000 Leser über die Hintergründe des Aktienmarktes und die Ursachen von Kursbewegungen. Meine Leser schätzen meinen neutralen, simplen und unterhaltsamen Stil. Als Privatanleger nutzen sie meine Einschätzungen und Anlageideen, um ihr Portfolio unabhängig zu optimieren.

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